Die ideale Kandidatin
Keller + Kuhn
 
 
 

Minetti sieht sofort, dass sie es ist. So viel Gepäck lässt darauf schliessen, dass sie bis

zum Bahnhof sitzen bleiben wird, Zeit genug also, die Intuition durch eine sorgfältige

Abwägung zu ergänzen.


Das Gesichtete ist in jeder Beziehung erst einmal ermutigend: kräftig, langbeinig,

athletisch, breiter, sinnlicher Mund, dichtes, rotes Haar, kommunikativ (Körpersprache),

intelligent (Stirn), starke Persönlichkeit (Wangenknochen), Humor (Augen), gesunder

sexueller Appetit (Ohrläppchen) ... Dann aber gerät, gegen seinen Willen, die Liste unter

ein mentales Minuszeichen: grobknochig, gewöhnlich, ungelenk, froschmäulig, überheblich,

starrsinnig, opportunistisch, überheblich, nymphomanische Züge. Minetti schliesst die

Augen. Nein, das hätte er nach diesem ersten Eindruck nicht erwartet. Nachdenklich

geworden wägt er ab. Die einen werden sie als inkarnierte, für jedwelche öffentliche

Verwendung (Verwendung!) ungeeignete, hässliche Kuh wahrnehmen und ihr nicht einmal

das leicht mildere Vorstadium derselbigen zubilligen, andere werden wie er trotz dieses

enttäuschenden zweiten Eindrucks hingerissen sein und dritte sich in einem endlosen

Sowohl-als-auch-Palaver verlieren, ohne je zu einem Resultat zu gelangen. Ob diese

widersprüchlichen Wahrnehmungen   aber wünschenswert sind für eine ideale Kandidatin,

darf, ja, muss bezweifelt werden.


Um sich noch einmal unvoreingenommen ein Bild zu machen, öffnet Minetti die Augen. Zu

spät. Erschrocken stellt er fest, dass der Platz drei Reihen weiter vorn nicht mehr besetzt

ist. Ein zweiter Blick belehrt ihn, dass der Bus bereits die Haltestelle Marktplatz ansteuert,

während er, wie die Unbekannte, der gegenüber er jetzt ein schlechtes Gewissen zu haben

beginnt, ebenfalls am Bahnhof hatte aussteigen wollen, wo er hoffte, für einmal nicht im

Stadtcafé, vielleicht Maag zu sehen. Hat das möglicherweise auch sein Gutes? fragt sich

Minetti, denn statt sich von Maag anzuhören, was er im Grunde schon weiss, kann er sich

nun in Ruhe überlegen, für welche Kandidatur die Frau hätte in Frage kommen können.